Von Petra Grünendahl

Ich wohne gegenüber von zwei Grundschulen. Morgens um acht Uhr bricht regelmäßig das Verkehrschaos aus: Am Straßenrand, auf den Bürgersteigen und in den Einfahrten halten Mamis und Papis, die ihren Nachwuchs mit dem Auto zur Schule karren. Ein ähnliches Phänomen ist übrigens auch vor weiterführenden Schulen zu beobachten.

Da erstaunt es mich gar nicht, was der Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) nun in einer Studie veröffentlicht hat: Immer mehr Kinder in Deutschland können nicht mehr richtig Radfahren. Solange es nur geradeaus geht, ist es ja noch ganz einfach. Aber schon die Spur zu halten, wenn sie nach links oder rechts gucken, wird schwierig. Und erst recht ein Problem ist der Blick über die Schulter zurück, wenn man abbiegen will. In manchen Schulklassen gibt es Kinder, die gar nicht Fahrrad fahren können, und dies für die Fahrradprüfung in der vierten Klasse im Einzelunterricht mühsam nachholen und lernen müssen.

Koordinationsprobleme, unzureichend ausgebildete Motorik und fehlende Körperbeherrschung sind die Ursachen dieser Probleme. Mangelnde Übung hat Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung des GDV, als Wurzel des Übels ausgemacht. „Eltern kutschieren ihre Kinder überall hin, auch wenn es nicht so weit ist und zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Bus genau so einfach zu erreichen wäre: Mit dem Auto ist es halt bequemer.“ Und ihre Freizeit verbringen Kinder heutzutage viel zu oft drinnen vor dem Fernseher oder dem Computer. Auch die Radtour mit Freunden oder der Familie ist heute eher selten. Dabei wäre es auch für die Großstädter nicht das große Problem, ins Grüne zu kommen – sei es auf dem doch heutzutage vielfach gut ausgebauten Radwegenetz oder indem man die Fahrräder ins Auto packt und raus fährt aus der Stadt.

Wie anders war die Situation zu meiner Schulzeit in den Siebziger und Achtziger Jahren: Die Grundschule lag einen Kilometer entfernt. Der Weg an der Anger entlang war länger, aber dafür kreuzte er erst vor der Schule wieder eine Straße. Vom ersten Schuljahr an legten wir den Weg in der Regel mit dem Fahrrad zurück – selbstständig! In der dritten oder vierten Klasse merkten wir, dass der Weg an der Straße entlang (beides übrigens Haupt- und Durchgangsstraßen) kürzer war und nahmen diesen – trotz des Verbots unserer Eltern – immer häufiger. Zugegeben, damals fuhren auf der Hauptstraße, an der wir wohnten, lange nicht so viele Autos wie heute. Aber unabhängig von der gestiegenen Verkehrsdichte: Wir konnten Fahrrad fahren! Meine Eltern hätten übrigens weder die Zeit noch den nötigen Zweitwagen gehabt, uns Kinder überall hin zu kutschieren.

Den Weg zum Gymnasium legten wir in den ersten Jahren mit dem Linienbus und ab der Bushaltestelle für einen guten Kilometer zu Fuß zurück. In der Gesellschaft von Freunden und Klassenkameraden hatten wir auf dem Weg viel Spaß – und wir waren selbstständig! In der siebten, achten Klasse fingen wir an, im Sommer mit dem Fahrrad die vier Kilometer aus dem Vorort in die Stadt zu fahren. Das machte uns unabhängiger – nicht nur vom Bus!

„Die Ergebnisse der Studie haben uns richtig erschreckt“, so Brockelmann, der befürchtet, dass sich die Situation in den nächsten Jahren noch verschlimmert. Es ist ja nicht nur das Radfahren lernen, was Kindern heute nicht mehr mit in die Wiege gelegt wird. Sie lernen auch nicht mehr, den Wege zur Schule oder zum Sport allein zu bewältigen – sei es mit den Fahrrad, dem Bus oder zu Fuß. Und Abenteuer erlebt man ja heute nur noch im Fernsehen oder am Computer – wir erlebten sie noch draußen. Die heutige Generation Kinder verliert dadurch sehr viel: einen ersten Schritt in die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Armes Deutschland!

Die Studie „Psychomotorische Defizite von Kindern im Grundschulalter und ihre Auswirkungen auf die Radfahrausbildung, Befragung von Polizei-Verkehrserziehern“ gibt es bei der Unfallforschung der Versicherer (www.udv.de) im Download.

© September 2009 Petra Grünendahl